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11.10.02 -- mo

hier kommt noch meine "tante Betsy" - eine Geschichte mit Mehlmotten und anderem Zeugs...

die soll nicht so viel schreiben

 














(2.Version - Anm. der Autorin)

Tante Betsy

Tante Betsy lag mitten im Wohnzimmer und war tot. Ihr linkes Bein war merkwürdig verrenkt, als sei es verkehrt herum an ihrem Körper angebracht worden. Neben ihrem Kopf leuchtete eine Glaskugel, die sie vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt erbeutet hatte und die sonst auf ihrem Schreibtisch zwischen anderem Krimskrams und dem stets vollen Aschenbecher liegt.
Ich hielt die Sofortbildkamera auf das Ensemble, ging leicht in die Knie und drückte ab. Dann schnappte ich mir einen Stuhl, stellte ihn vorsichtig neben die Leiche und machte ein Photo von oben. Schön sah sie aus meine tote Tante. Sie war Ende Vierzig und hatte prächtiges Haar, das von Natur aus Braun war, aber je nach Jahreszeit und Laune von ihr mit verschiedenen Rottönen aufgemuntert wurde. Im Moment funkelte es Granatapfelrot und bedeckte wie ein Schleier ihr Gesicht, gerade so, als wolle es mir den Anblick in das tote Antlitz ersparen.
Ich dachte immer, man müßt mindestens so alt sein wie Queen Mum, um schrullig genannt zu werden. Stimmt aber nicht. Meine Tante Betsy ist kaum 50 und schon sehr schrullig. Eine ihrer Schrullen ist es, Dinge zu vervollständigen. Wenn sie eine Packung Zigaretten leer geraucht hat, wirft sie diese niemals weg, ohne das Cellophan und die Alufolie der neuen Packung in die alte zu stopfen. "So ist sie wieder vollständig", sagt sie, was nach meiner Meinung völliger Blödsinn ist, denn es fehlen immerhin 18 Zigaretten. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Kim Basinger niemals nur ein T-Shirt kauft. Sie nimmt immer zwei mit, damit sich die T-Shirts nicht einsam fühlen in ihrem neuen Zuhause-Kleiderschrank. Warum, so frage ich mich, trägt aber Kim Basinger keine zwei T-Shirts übereinander, sondern wie jeder nur eines. Scheinbar fühlen sich T-Shirts am Körper ihres Besitzers niemals einsam. Aber was ist mit dem zurückgelassenen im Schrank? Als ich das mal meine Tante fragte, sah sie mich merkwürdig an, und ich war mir sicher, dass sie anfing sich Gedanken zu diesem Thema zu machen. Schließlich bemerkte sie, dass dieses T-Shirt ja die Gesellschaft anderer Kleidungsstücke genießen könnte und sich daher über Einsamkeit nicht zu beklagen hätte. Warum dies für heimische Kleiderschränke gilt, aber nicht für die Regale in Boutiquen ist mir schleierhaft. Jedenfalls spürt Tante Betsy seitdem die Seelenverwandschaft zwischen Kim Basinger und ihr und verpasst keinen Film mit der berüchtigten Dame.
Eine andere Schrulle ist Tante Betsys Tierliebe. Wenn Sie jetzt meinen, dass Tierliebe doch etwas völlig normales sei, dann gebe ich Ihnen recht, solange wir von kleinen putzigen Pelztierchen sprechen. Klar, dass an Hundewelpen oder Katzenkindern niemand vorbeigeht, ohne "oh wie süß oder ach wie niedlich" zu seufzen. Man muß sie einfach knuddeln. Das ist völlig normal. Aber wenn man Getreidemotten nicht mit allen Mitteln chemischer, biologischer oder ganz schlicht physischer Gewalt bekämpft, sondern sie sich lustig vermehren läßt, weil sie ein Recht auf ihr kurzes Mehlmottenleben haben, dann ist das zumindest bedenklich. Sie können auch sagen verrückt, ich stimme Ihnen gern zu. Erst als die Mehlmottenpopulation bei uns zuhause zur Plage wurde, weil man keinen Schrank mehr öffnen konnte, ohne von einem Schwarm dieser bräunlich-grauen Geschöpfe Gottes begrüßt zu werden, wurde meine Tante einsichtig, das heißt sie war zu einem Kompromiss bereit. Ich durfte in Ihrer Abwesenheit Mehlmottenfallen aufstellen und ich durfte sie auch tot klatschen. Wie gesagt nur in Ihrer Abwesenheit. Sie hat nie eines dieser Massengräber zu Gesicht bekommen und ich glaube, es hätte sie umgebracht zu sehen, wie an die 300 Motten auf der schwarz-weiß gestreiften Folie klebten, manche von Ihnen noch immer bemüht, sich vom klebrigen Untergrund zu befreien. Selbst ich muß zugeben, dass dies kein schöner Anblick ist. Ich bevorzuge im übrigen den fairen Kampf von Mann zu Motte. Die Überlegenheit, die sich aus meiner Körpergröße, meinem Gewicht oder der Tatsache, dass ich denken kann ableiten ließe, entkräfte ich sofort damit, dass ich keine Flügel besitze, die Motte aber schon. Was bedeutet: Die Motte kann fliegen, ich kann es nicht. Sie kann sich jederzeit in höhere Regionen bewegen, ob es sie es tut ist ihre Sache. Genauso wie es meine Entscheidung ist, sie an der Wand zu zerdrücken, wenn Sie zu faul ist, ihre Flügel zu bewegen. So einfach ist das.
Ich legte mich flach auf den Boden, und machte eine Nahaufnahme von Tante Betsys Nasenspitze, die vorwitzig aus dem roten Haarschleier herauslugte. Meine Tante liebt ihre Nase nicht sehr. Sie findet sie zu spitz und außerdem stört es sie, dass der Nasenrücken im Verlauf von der Wurzel bis zur Spitze sich leicht nach oben biegt, wie eine Mini-Rampe für sehr kleine Skiabfahrtsspringer. Sie führte es mir einmal vor. "Guck mal" sagte sie und fuhr mit dem Zeigefinger ihre Nasenrückenrampe herab und machte "Schhh" und es klang wirklich so, als würde ein kleiner Skispringer mit einem gewaltigen Satz und dem damit verbundenen Geräusch abheben. Ich mag ihre Nase und es gibt einen Mann, der diese Nase einmal sehr geliebt hat. Sie hat mir nur einmal von ihm erzählt, aber es war ein so intensiver Bericht, dass es mir heute so vorkommt, als hätte sie jeden Tag etwas über ihn erzählt und über diese Liebe. Sie zeigte mir einen Holzkasten mit mindestens 500 Briefen, die er ihr geschrieben hatte im Laufe der sieben Jahre, in denen sie ein Paar waren und doch keines sein konnten. "Weißt Du, was mich am meisten ärgert", sagte sie am Ende Ihres Berichts und sah mich mit funkelnden Augen an, "dass es nicht mit einem lauten Knall, mit Schreien und Heulen und Beschimpfungen endete. Es gab keinen Schlußakkord. Das ist fad. Am Ende einer großen Liebe muß es einen Big Bang geben. Ein letztes großes Aufbäumen. Einen furiosen letzten leidenschaftlichen Kampf. Es muß einen geben, der blutend liegen bleibt und einen, der sich blutend weg schleppt."
Ich hatte keinen blassen Schimmer, ob sie wirklich ernst meinte, was sie da von sich gab oder ihre Phantasie mal wieder mit ihr durchging. Mir jedenfalls waren Mädchen damals suspekt und dass ich die große Liebe jemals erleben würde, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Besonders nicht, nachdem ich Tante Betsys Ausführungen gehört hatte. Bloß nicht. Ich hatte schon genug Probleme.
"Bring ihn doch um, Du könntest ihn sterben lassen in Deinem nächsten Buch." "Mal sehen", sagte meine Tante Betsy, "mal sehen." Hatte ich das schon erwähnt? Meine Tante schreibt Kriminalromane.
Ich kroch um meine tote Tante herum und suchte nach einer neuen interessanten Perspektive.
"Du mußt nicht Tante zu mir sagen, sag einfach Betsy", hatte meine Tante damals gesagt, nachdem ich mit dem wenigen, was ich hatte, bei ihr eingezogen war. Aber ich wollte Tante Betsy sagen, weil ich eine Familie wollte. Meine Mutter war gerade an den Folgen einer Gehirnhautentzündung gestorben. Eine Zecke hatte sie gebissen und diese Tatsache war lange Zeit von den Ärzten unbemerkt geblieben. Einen Vater hatte es in meinem Leben nie gegeben. Also war ich allein. Das war vor sechs Jahren. Seitdem lebe ich bei Tante Betsy, die immer meine Lieblingstante war, nicht nur weil sie die einzige Tante ist, die ich habe, sondern weil sie so schrullig und sanft ist und manchmal genau das Gegenteil. Sie ist ein bißchen unberechenbar und ziemlich chaotisch, aber das gefällt mir an ihr. In meinem Alter ist auch alles unberechenbar und im Chaos kenne ich mich aus. Ach ja, ich bin sechszehn.
Zu meiner Familie gehört auch noch Onkel Paul. Er macht ihr den Papierkram. Papierkram ist für Tante Betsy das Schlimmste. Er kommt noch vor Pest und Cholera und sie behauptet immer, dass mit den Computern alles noch viel schlimmer geworden ist. "Wir werden eines Tages im Papierkram ersticken", ist ihre Meinung, "seit es Computer gibt produzieren wir Menschen etwa 50mal so viel Papier wie früher, das ist statistisch belegt." Meine Tante haßt eigentlich Statistiken, die kommen gleich nach Pest und Cholera. Sie sagt, es käme immer darauf an, was der bezweckt, der sie macht und man könne die Ergebnisse steuern gerade so wie man sie braucht. Doch wenn Statistiken ihr in den Kram passen, nutzt sie das hemmungslos. Wie ich schon sagte, sie ist unberechenbar.
Meiner Meinung nach verbrauchen wir heutzutage weniger Papier. Ich auf jeden Fall. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen einzigen Brief geschrieben geschweige denn etwas längeres. Was ich zu sagen habe übermittele ich per SMS. Ist doch klar. Ja ich besitze ein Handy. Meine Tante hat es mir vor einem Jahr zum meinem 15. Geburtstag geschenkt. Eigentlich haßt sie diese Dinger, weil die, wie sie sagt, akustische Umweltverschmutzung seien. Trotzdem hat sie mir so ein Ding geschenkt. "Zu Deiner eigenen Sicherheit", sagte sie, "und zu meiner Beruhigung. So weiß ich wenigstens immer, wo Du gerade steckst." Das ist typisch Tante Betsy. Sie weiß lediglich dass ich noch lebe, wenn ich mich melde, aber ob ich gerade dabei bin mein Leben in einer Opiumhöhle zu vernichten, das weiß sie eben nicht. Ich könnte doch locker an der Wasserpfeife hängen und ihr versichern ich stünde am Bahnhof, der Zug habe Verspätung und ich würde die Zeit nutzen, um ein gutes Buch im Bahnhofsrestaurant zu lesen und dabei eine Tasse Kamillentee zu schlürfen. Komischerweise passieren ihr solche Denkfehler in Ihren Büchern niemals. Immer wieder loben die Kritiker die perfekt durchdachte Story und die logische Konsequenz aller Handlungs-stränge. Wie ich schon sagte, Tante Betsy ist chaotisch oder genau das Gegenteil. Das mag auch Onkel Paul an ihr. Er sagt immer, dass sie wunderbar verrückt sei, was einen angenehmen Kontrast zu seiner Akkuratesse ergebe.
Onkel Paul ist Buchhalter in einem Versicherungskonzern und nicht wirklich ein Verwandter. Er ist ein Freund des Hauses, wie Tante Betsy immer sagt. Keine Ahnung, was diese Freundschaft alles so einschließt neben dem Papierkram, aber das ist mir auch egal. Er lacht gern, er ist nett zu mir und fürsorglich zu Tante Betsy, das reicht mir. Und ich nenne in Onkel, weil ich damit meine Familie ver-größere. Ich weiß, dass es manche Leute in meinem Alter ausge-sprochen cool finden sogar ihre nächsten Verwandten nur mit Vornamen anzureden, also statt "Tag Paps" sagen sie: "Hi Heinz, alles im Lack?" Oder statt "Schlaf gut Mama und träum was Süßes" begnügen Sie sich mit "Bis Morgen Käthe". Meine Sache ist das nicht. Ich werde mal eine eigene große Familie haben und darauf achten, dass niemals eines meiner Kinder auch nur eine Ahnung davon bekommt, wie ich mit Vornamen heiße. Ich möchte Papa oder Papi von mir aus auch Vati genannt werden und damit basta. Meine Frau darf mich natürlich beim Vornamen nennen, aber wenn die Kinder dabei sind sollte sie ihn entweder nur flüstern oder mich Häschen, Mein Schnurrdiburr oder sonstwie nennen. Auf keinen Fall Bastian. So heiße ich nämlich.
Ich guckte mir die Polaroids an, die ich bisher gemacht hatte und fand, dass alles schon recht gut aus sah. Das müßte eigentlich reichen. Vielleicht noch ein paar Aufnahmen des Tatorts, die Leiche war zur Genüge abgelichtet. Ich sah mich um in dem riesigen ebenerdigen Raum, der mal die Produktionsstätte einer kleiner Lederwarenfabrik gewesen war. Aus Filmen weiß ich, dass jeder Tatort einen Haufen Geschichten erzählen kann, man muß nur genau zuhören. Ich weiß nicht, was die tausend Stapel von Zeitschriften einem Kommissar erzählen könnten, mir jedenfalls sagen sie nichts, außer, dass hier jemand wohnt, der entweder Altpapier für die nächste Sammlung zusammengestellt hat oder aber sich nicht von dem Mist trennen kann. Letzteres trifft auf Tante Betsy zu. Sie meint immer, dass sie den einen oder anderen Artikel in der einen oder anderen Zeitschrift noch mal verwerten kann. Aber wenn sie so einen Artikel wirklich mal braucht, findet sie ihn nicht. Und dann schreibt sie aus dem Gedächtnis, phantasiert etwas dazu und alles liest sich schlüssig und klingt wundervoll. Trotzdem bleiben die Stapel an ihren Plätzen und immer neue kommen dazu. Volle Aschenbecher sind auch so ein Thema, dass sich durch die gesamte Wohnlandschaft zieht.
Meine Tante raucht wie ein Schlot und Onkel Paul klagt immer, dass das Zeug sie eines Tages noch umbringen würde. "Das wäre doch der perfekte Mord", erwidert meine Tante dann ungerührt, steckt sich nächste Zigarette an und traktiert die Tastatur ihres Pcs. Mehr hat sie zu diesem Thema meistens nicht zu sagen.
"Eines Tages höre ich auf damit". Das ist Tante Betsys Standard-Satz, wenn Onkel Paul resigniert durch die Wohnung läuft und die Berge von Kippen einsammelt. "Schade, dass Du keine Kinder wolltest", sagte Onkel Paul einmal, während er seine Entsorgungsprozession machte, "dann hättest Du es sein gelassen, weil Du viel zu sehr um Deinen Nachswuchs besorgt gewesen wärst. Dir zu schaden, macht Dir ja nichts aus." "Ich wollte schon, aber die Kinder wollten mich nicht", antwortete Tante Betsy knapp und sah einen kurzen Moment auf von der Tatstatur und blickte hinaus durch das hohe Fenster der ehemaligen Fabrik in den verwilderten Garten, atmete tief durch und schrieb weiter.
"Das reicht jetzt", hörte ich ihre Stimme. "Ich kriege noch einen Krampf, wenn ich weiter so liegen muß. Komm her und hilf deiner alten Tante wieder auf die Beine." Ich legte die Kamera vorsichtig auf den Schreibtisch neben all den Krimskrams und den vollen Aschenbecher und ging zu ihr. Sie lag immer noch bäuchlings auf dem Teppich, aber jetzt konnte ich ihr Gesicht sehen. Den roten Haarschleier hatte sie zurückge-schoben. Sie lachte mich an und sah sehr lebendig aus: "Na Bastian, war ich eine gute Leiche?"
"Guck selbst", sagte ich nahm ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte und zog sie hoch. Sie streckte sich wie eine Katze, die lange in der Sonne gedöst hatte und sah sich die Polaroids an. "Gut", sagte sie, setzte sich an ihren Schreibtisch, betrachtete noch einmal die Leichenschau und dann begann sie ihren neuen Roman: Meine Tante lag mitten im Wohnzimmer und war tot...
Die Zigaretten haben sie Jahre später tatsächlich umgebracht, aber nicht ganz so wie es mein Onkel Paul vorausgesagt hatte. Sie wollte sich eine neue Packung ziehen im Automat um die Ecke. Es war ein Krankenwagen, der sie überrollte. Und es war ihr letzter Tod. Ich habe die Packung gekauft, die sie kaufen wollte. Dann habe ich das Bändchen abgezogen, das Zellophan-papier entfernt, die Alufolie gelöst und herausgezogen und alles in die letzte leere Packung gesteckt, die noch auf ihrem Schreibtisch lag. Ich bin sicher, Ihr Tod hätte ihr gefallen.


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