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Mit ausgeklügelten Experimenten widerlegt ein US-Psychologe ältere Befunde, denen zufolge Schimpansen ein Ich-Bewußtsein haben
Als eine der spektakulärsten Erkenntnisse über die Tierwelt galt vier Jahrzehnte lang folgender Forschungsbefund: Menschenaffen erkennen sich in einem Spiegel selbst und verraten damit, daß sie über ein Ich-Bewußtsein verfügen. Neuen Daten zufolge, die der Psychologe Daniel Povinelli von der University of Southern Louisiana in dem von Michel Ferrari herausgegebenen Buch "Self-Awareness" (Guilford Publications, New York 1998, 50 Dollar) präsentiert, geht diese Schlußfolgerung jedoch zu weit. Demnach verbinden Affen mit ihrem Spiegelbild nicht das Gefühl "Ich", sie sehen darin vielmehr nur etwas, das "wie Ich" ist.
In den ersten Studien zur Bewußtseinsforschung bei Affen Ende der sechziger Jahre wurden Schimpansen für ein paar Tage mit einem großen Spiegel konfrontiert. Zunächst reagierten die Tiere auf ihr Konterfei so aufgeregt wie auf einen fremden Artgenossen. Nach einiger Zeit beruhigten sie sich jedoch und nutzten den Spiegel gezielt, um an sich selbst Körperteile zu inspizieren. Für das entscheidende Experiment wurden die Affen unter Narkose mit einem Farbtupfer im Gesicht markiert. Als sie nach dem Aufwachen in den Spiegel blickten, fingen sie unvermittelt an, nach dem Klecks zu tasten.
Außer Schimpansen haben nur Orang-Utans und Menschen ein solches Aha-Erlebnis, wenn sie sich in einem Spiegel oder auf einem Bildschirm sehen. Alle anderen Tiere, einschließlich der Gorillas, sehen in ihrem Ebenbild auf Dauer einen Fremden, oder aber sie verlieren das Interesse an ihrem Konterfei sie erkennen sich also nicht selbst im Spiegel. Menschenkinder bestehen den Test mit dem Farbklecks bereits im Alter von etwa anderthalb bis zwei Jahren.
Die Fähigkeit, von einem Spiegelbild Rückschlüsse auf den eigenen Körper zu ziehen, werteten Forscher bisher als ein sicheres Zeichen dafür, daß der Betrachter ein Ich-Bewußtsein besitzt, erläutert Povinelli. Wer sich selbst im Spiegel erkennt, so die Theorie, kann sich auch vorstellen, ein Objekt in den Augen anderer Individuen zu sein.
Mit einer ausgeklügelten Abwandlung des Spiegeltests bewiesen Povinelli und seine Mitarbeiter nun, daß diese Interpretation zu weit geht. Sie nahmen zunächst ein Experiment mit Kindern im Alter von zwei bis fünf Jahren vor. Während der Versuchsleiter die Kleinen unter einem Vorwand lobte, brachte er heimlich eine kleine bunte Klammer an ihren Haaren an. Drei Minuten später erhielt ein Teil der Kinder Gelegenheit, sich selbst live auf einem Bildschirm zu beobachten. Der anderen Gruppe führten die Forscher eine Aufzeichnung jener Szene vor, in der sie den Kleinen drei Minuten zuvor eine Klammer im Haar angebracht hatten.
Es stellte sich heraus, daß die jüngeren Kinder anders auf die unterschiedlichen Filme reagierten als die älteren. So spielte es bei den Zwei- bis Dreijährigen unter den kleinen Probanden eine maßgebliche Rolle, ob sie die Live-Übertragung sahen oder die aufgezeichnete Szene, berichtet Povinelli. Diejenigen, die sich in Echtzeit auf dem Bildschirm beobachten konnten, griffen ohne Zögern nach der Klammer und entfernten sie.
Die anderen Kinder, denen man die Aufzeichnung vorspielte, reagierten darauf nicht. Dennoch erkannten sie, daß zwischen ihnen und der Person in der Aufzeichnung ein Zusammenhang bestand. Auf die Frage "Wer ist das?" antworteten sie meist mit "ich", oder sie sagten ihren Namen. Es fehlte ihnen aber offenbar das Gefühl dafür, daß das Ich über die Zeit hinweg Bestand hat. Diese Gewißheit entwickelt sich bei Kindern erst später. Die vier bis fünf Jahre alten Kinder, die nur die Aufzeichnung gesehen hatten, entfernten nämlich die Klammer sofort.
In einer Pilotstudie wiederholte Povinelli das Experiment mit einer Gruppe von Schimpansen. Das Verhalten der Menschenaffen entsprach dem der jüngeren Kindergruppe. Selbst den erwachsenen Tieren dämmerte nicht, daß sie selbst auf dem Bildschirm zu sehen waren, wenn sie die drei Minuten alte Aufnahme vorgespielt bekamen.
Es sei zwar noch zu früh, um völlig auszuschließen, daß Schimpansen in der Lage sind, diesen Test der "verzögerten Selbsterkennung" zu bestehen, betont der Psychologe. Beispielsweise sei fraglich, ob bei den Tieren nach längerer Erfahrung mit dem Videoband nicht doch noch der Groschen fällt.
Nach Povinellis Auffassung spricht jedoch vieles dafür, daß die haarigen Vettern des Menschen kein Ich-Bewußtsein haben, welches dem des Homo sapiens vergleichbar ist. Der Forscher vermutet, daß Schimpansen und kleine Kinder nur eine Analogie zwischen dem widergespiegelten Verhalten und ihrem eigenen erkennen, wenn sie ihr Spiegelbild betrachten. "Sie merken: Immer, wenn sie sich bewegen, bewegt sich das Konterfei im Spiegel mit", schreibt der Forscher.
Daraus ziehen Schimpansen offenbar den Schluß, daß alles, was auf das Individuum im Spiegel zutrifft, auch für sie selbst gilt. Zwar bestehen Schimpansen den klassischen Test mit dem roten Fleck auf ihrer Stirn. Sie erkennen den Fleck im Spiegel als eine Veränderung an ihrem eigenen Körper. Der Affe folgere daraus aber nicht "Das bin ich", sagt Povinelli. Es reiche nur zu dem Schluß "Dieses Lebewesen dort ist wie ich".
Um den Test mit der Videoaufzeichnung zu bestehen, sei eine höhere Form von Ich-Bewußtsein erforderlich, folgert der Wissenschaftler. Dafür müßten Lebewesen über ein Bewußtsein für die eigene Geschichte verfügen, über das Wissen, daß sie bereits früher existiert haben und (wahrscheinlich) auch in Zukunft existieren werden. Offenbar ist diese Erkenntnis nur dem Menschen von einer bestimmten Entwicklungsstufe an zugänglich.
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